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C. G. Jung: Rezeption

Holger Nikolai Wie haben sich Jungs Lehren im Laufe der Zeit behauptet? Das Werk Jungs wurde und wird weltweit geschätzt. Wir können schon alleine bei dieser Tatsache symbolisch werden, daß der vielleicht größte Schatten (auch ein Jungscher Begriff!) auf seinem Werk der ist, daß er der Zweite war – nach Freud. - von Holger Nikolai, Oct 2015
Wie bei der Mondlandung, im Sport und in vielen anderen Bereichen ist es meist der "Erste", der im Gedächtnis haften bleibt. Allerdings hat sich das Werk und der Gedanke Jungs weitaus besser gehalten bzw. ist immer populärer geblieben als die Werke vieler anderer großer Psychologen, wie z. B. Alfred Adler oder Erich Fromm, die heute meist nur noch Fachleuten geläufig sind. Was hat zu dieser – doch immer noch relativ großen – Popularität Jungs geführt? Vielleicht der Umstand, daß sich Jungs Werk vielen Disziplinen bzw. Wissenschaften angliedern läßt.

Seinem eigenen Werkgedanken folgend, war es immer Jungs Anliegen, die "Ganzheit" anzustreben. Schon früh hat er selbst auf wissenschaftlicher und klinischer Ebene angeregt oder gar gefordert, es mögen Ärzte, Psychiater, Philologen, Historiker, Philosophen und Biologen zusammenarbeiten, um der Universalität allen Wissens Rechnung zu tragen. Es hat so nicht funktioniert, aber auf eine heutzutage bemerkenswerte – und vielleicht nicht wiederholbare – Art und Weise hat Jung selbst all diese Wissenschaften in seinen Schriften vereint; mit einer Souveränität und Kompetenz, die uns heute Staunen macht! Genau darin mag der Grund liegen, warum sich Personen von seinem Werk angesprochen fühlen, die sich nur sekundär für Psychologie interessieren. Es ist Jungs "Blick über den Tellerrand" – im doppelten Sinne:

Er spricht Personen unterschiedlichster Interessenlage an, und er bietet in allen Ausführungen auch immer die "Vision", den Ausblick auf die Unendlichkeit. Keine seiner Theorien ist abschließend oder strikt kategorisierend, sondern eröffnet immer den Blick auf das noch Unbewußte, die noch unbeantworteten Fragen. Jeder, der sich die Offenheit bewahrt hat, kann sich davon angesprochen fühlen.

Im Umkehrschluß haben Personen, die ein "geschlossenes" System suchen, oft Schwierigkeiten mit Jung. Jung selbst hat die Widersprüche in seiner Arbeit einmal charakterisiert, frei nacherzählt: "Ich lenke Ihren Blick auf das Feuer, und um den Blick umfassender zu machen, stelle ich ringsherum Spiegel auf. Achten Sie nicht auf die Brüche zwischen den Spiegeln, sondern auf das Feuer!"

Einen großen weiteren Bereich der Rezeption haben ihm seine umfassenden Studien zu "okkulten Phänomenen" erschlossen. Es war eins seiner großen Anliegen, den unerklärbaren Phänomenen nachzuspüren, den Dingen, die "zwischen Himmel und Erde" geschehen. Immer hat er sich wissenschaftlich-kritisch, aber auch neugierig diesen Phänomenen angenähert. Immer auch unter der Prämisse, daß alle Wahrnehmungen und Erscheinungen des Menschen psychischer Natur sind. Nach seinem Tod 1961 setzte allmählich – beinahe weltweit – eine gesellscfaftliche Neuordnung ein, tiefergreifend als die zurückliegenden Umwälzungen. Den Höhepunkt können wir heute 1968 verorten, und damit einhergehend ein kaum jemals zuvor dagewesenes Interesse an Spiritualität, Schamanismus, Übersinnlickeit und Außerirdischem.

Wenn wir nun bedenken, daß Jungs Schriften zu diesem Zeitpunkt – nur wenige Jahre nach seinem Tod – noch praktisch "jung" waren (sic!), erklärt sich, warum sein Werk nie verschwunden ist, sondern in diesem Klima rezipiert und gedeutet wurde. Jung war vielleicht der erste und einzige moderne Psychiater, der in dieser Art Teil der esoterischen Bewegung geworden ist. Wenngleich es einen Umstand gibt, den viele esoterisch interessierte Personen gerne ausblenden: Alle Abhandlungen Jungs über "okkulte Phänomene" enden mit der Erkenntnis, daß es die Seele des Einzelnen ist, die ihre eigenen, bereits angesprochenen "Archetypen" mit Hilfskonstruktionen sichtbar machen will. Im Laufe der Zeit haben sich diese Hilfskonstruktionen gewandelt, vom Magnetismus zum Tischerücken, weiter zu Ufos usw. Den Ursprung all dieser Phänomene hat Jung aber immer im Menschen selbst gesehen.

Weltweit haben sich C.-G.-Jung-Institute gegründet, die heute lebendige Vertreter seiner Gedanken und Theorien sind, und namhafte Vertreter dieser Institute veröffentlichen immer neue Interpretationen seiner Schriften, z. B. die anerkannte Schweizer Psychiaterin Verena Kast. Die "Ewigkeit" seiner Theorien kann sich vielleicht auch erst jetzt herauskristallisieren, wo seine ersten Schriften die 100-Jahr-Grenze überschreiten und auch zu seinen letzten Gedanken schon der Abstand eines halben Menschenlebens liegt. In dem Moment, wo wir Jung heute lesen und eine erstaunliche Aktualität feststellen – einfach im seelischen Erleben und Nachspüren seiner Gedanken – können wir die Gültigkeit seiner Theorien erkennen.

Einen weiteren Aktualitätsschub hat sein Werk durch die Veröffentlichung seines "Roten Buchs" erfahren. Dieses wohl einzigartige Werk stellt den Verlauf seiner Selbstanalyse dar, noch bevor diese zum standardisierten Inhalt einer Ausbildung wurde. Seine eigenen Gedanken in allen Tiefen, seine Träume, seine Herstellung von Verbindungen zu Mythologie und Schamanismus hat er über knapp 14 Jahre in einem opulenten, selbst illustrierten Großwerk festgehalten, das erst jetzt, also lange nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Die Entschlüsselung dieses Werks konfrontiert den Leser mit größten Schwierigkeiten, was der Faszination natürlich keinen Abbruch tut! Man spürt instinktiv die Einzigartigkeit dieses Werks und seines Schöpfers, und dieses Rote Buch wird die Diskussion um Jung wohl für viele weitere Jahre anfeuern!





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