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Der Ego-Tunnel

Thomas Metzinger prägt den Begriff des Ego-Tunnels in seinem gleichnamigen Buch. In diesem Artikel möchte ich versuchen, noch zusätzliche, andere Aspekte zu seinen Thesen hinzuzufügen, die das Licht auf ein neues Verständnis der eigenen Persönlichkeit richten könnten. In umfassenderer Form wird das Thema in meinem kürzlich veröffentlichten Buch über Selbst-Reflexion dargestellt. - von Urs Weth, Oct 2015
Der Begriff des Tunnels gefällt mir ganz gut in diesem Zusammenhang. Wir leben in einer Zeit, in der viel Schein und wenig Sein unsere Kultur prägen. Das persönliche Erlebnis ist meistens mit festen und geprägten Vorstellungen und Verhaftungen verbunden, die wir aber in der Regel nicht erkennen. Der Akt der Erkenntnis entkoppelt sich von seiner Wurzel. Das Fundament bleibt somit im Dunkeln. Die Gedanken, die wir bilden, holen ihre Nahrung aus einer Welt, die wir einmal geschaffen und verinnerlicht haben, um dann im Untergrund abzusinken. Diese Welt des Untergrundes ist unser Kapital.

Wir hüten sie als verborgenen Schatz. In dieser Schatztruhe befindet sich das Wissen unseres vergangenen gelebten Lebens. Hier befindet sich aber auch alles Leid, was damit verbunden war, alle Verletzungen und alle Schmerzen. Wie der Sand im Wasser setzen sich diese Inhalte ab in unserer Seele. Und obwohl wir sie nicht mehr erkennen und wahrnehmen, wirken sie aus diesen Tiefen heraus weiter. Fast unbemerkt schleichen sie sich ein in alles, was wir denken und sprechen.

Sie prägen unsere Welt der Sympathien und Antipathien. Was aus unserem Mund heraus spricht oder was sich ins Papier hinein setzt, füllt sich unbewusst mit diesem Material. Nur wer ganz wachsam ist, aufmerksam und selbstbewusst, kann etwas von der Herkunft aller geschaffenen Werte und Vorstellungen erfahren.

Damit erst wird er oder sie fähig, eigene Verhaftungen oder Blockaden in sich zu entdecken (und damit zu lösen). Der automatisierte Normalzustand gibt kein Bewusstsein davon her. Es ist nicht möglich, die vorgegebene Bahn zu erkennen, der wir bewusstlos folgen. Im Zustand dieser Vergangenheit erkennt der Mensch selbst keine Hindernisse und keine Verhaftungen. Er fühlt sich frei. Und er fühlt sich nicht nur frei, sondern auch sicher, weil diese Bahn in gewissem Sinn ja seine eigene Bahn ist, die ihm Struktur und Halt gibt! In diesem Zustand ist es aber nicht möglich, zu erkennen, dass solche Werte und Gedanken “eingefroren” werden. Flexibilität und Offenheit büssen mit zunehmendem Alter an Kraft und führen mitunter in eine Sackgasse. Andere finden uns vielleicht stur, weil sie ja nicht dieselben Prinzipien bewahrt haben wie wir. Nur, sie stecken ihrerseits in einem Tunnel, nur dass es ein anderer Tunnel ist, den wir nun vielleicht ebenso verurteilend als stur bezeichnen.

Aus diesem Ansammeln von Vorstellungen und den Schlüssen die daraus gezogen werden, entstehen Isolationen und Gefühle der Abgeschlossenheit und Einsamkeit.

Sie nehmen in dem Masse zu, wie wir selber solche Fixierungen und Dogmen schaffen. Erst das Lösen und “Enthaften” solcher Verhärtungen schafft etwas, was ich “Lebensweisheit” nenne. Die Weisheit besteht also nicht etwa im Ansammeln und multiplizieren von Wissensinhalten, sondern in der Loslösung derselben. Somit sind wir beim sokratischen Spruch angekommen: “ich weiß, dass ich nichts weiß“.

Der Umgang mit solchen Fixierungen ist gewiss sehr unterschiedlich. Den einen erfüllt es mit Stolz und Hochmut, wenn er sicher im Hafen seiner Vorstellungen verweilt. Den andern bringt es zur Verzweiflung, weil ihm das Trennende so klar zu Bewusstsein kommt. Beide Richtungen können sich ins Pathologische übersteigern und zur Manie oder in die Depression führen. Währendem der Neurotiker immer leidet, fühlt der klassische Narzisst sich in seiner Verfolgerrolle immer sehr wohl und sicher. Schließlich ist er das Zentrum der Welt! Insofern fehlt ihm eigentlich nichts. Einzig seine Opfer finden es nicht so lustig. Das Gefälle bleibt aufrecht erhalten. Das Drama wird vollständig, wenn auch noch der Retter in Erscheinung tritt. Er schützt das Opfer, was ihm wiederum Genugtuung bringt. Alle drei spielen ihre Rollen in dem Lebensdrama. Und jeder fühlt sich auf seine Weise wohl dabei! Richtig glücklich werden aber alle drei nicht, weil jede Rolle letztlich das Beziehungsfeld eingeengt und sein eigenes tieferes Selbst beschattet.

Deshalb wird früher oder später ein Mangel festgestellt. Dieser Mangel wird sich im sozialen Umfeld manifestieren. Das Drama hinterlässt seine Spuren.

Der Einblick in den eigenen Tunnel erweitert erst die Perspektive und löst den inneren oder äußeren Konflikt.

Jeder Gedankengang ist eine Art Kanal, in den wir eintauchen. Dabei verlieren wir das Bewusstsein von uns selbst. Probieren Sie es aus! Denken sie einen Gedanken und versuchen Sie gleichzeitig das gedankenführende Bewusstsein aufrecht zu erhalten! Es wird für Ungeübte sehr schwierig sein, dies zu tun, weil sie dabei entweder den Gedanken wieder verlieren oder erneut in die Gedankenidentifikation abtauchen. Dabei geht die Gedankenkontrolle wieder verloren.

Schaffen wir es jedoch, beides anwesend zu halten und präsent zu bleiben, so löst sich das Verhaftende und Einengende der Vorstellungen auf. Die stete Übung dieser Art Selbst-Reflexion, die eigentlich vielmehr eine Selbstbeobachtung ist, löst die festen Strukturen unserer Persönlichkeit auf, macht sie gewissermaßen geschmeidiger und flexibler und damit auch offener.

Das ist ein aus der egomanen Welt gewonnenes, spirituelles Geheimnis.
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