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Darf ich meine Schwester alleine lassen?

x (w, 18) aus Rosenheim: Hallo liebes Psychologen-Team,

bei meiner Frage geht es um meine kleine Schwester. Sie ist 16. Wir haben vor 11 Jahren bei einem Unfall unseren Vater verloren. Und die Jahre drauf starb ein Großelternteil nach dem anderen. Vor 4 Jahren unser Opa. Dass Großeltern sterben ist ja Lauf der Natur, aber wir haben beide sehr an ihnen gehangen...

Als meine Schwester in die Pubertät gekommen ist, hatte sie ständig Albträume, und meine Mutter war deshalb mit ihr schon bei einer Psychologin. Wir dachten, es sei besser geworden, doch vor einem halben Jahr hat sie angefangen, sich zu ritzen. In der Schule lässt sie kaum jemanden an sich heran, Freunde, die sie einmal entäuschen, schreibt sie völlig ab.

Meine Schwester hängt sehr an mir, doch ich bin jetzt im Oktober zum Studieren in eine andere Stadt gezogen. Ich komme zwar noch jedes zweite Wochenende heim, aber trotzdem ist es bei ihr dadurch schlimmer geworden. Sie will nicht, dass ich fahre, wenn ich übers Wochenende daheim war und ist traurig, wenn ich nicht da bin. Sie ritzt sich, und heute habe ich durch Zufall einen Brief gefunden, in dem sie über Selbstmord nachdenkt...

Ich fühle mich sowieso schlecht, dass ich sie 'allein' lasse - aber jetzt will ich nicht mehr in meine Studiumsstadt fahren, weil ich Angst habe um sie... Meine Mutter kümmert sich gut um sie und beide besuchen eine Psychologin, doch es scheint nicht so viel zu bringen. Wie kann ich ihr helfen?

Antwort vom Psychomeda Therapeuten-Team:

Liebe x,

vielen Dank für Ihre ausführliche Beschreibung Ihrer Lage! Um mit Ihrer abschließenden Frage zu beginnen: Sie können Ihrer Schwester nicht helfen! Das klingt hart, und ich werde versuchen, es zu verdeutlichen. Sie und Ihre kleine Schwester mußten viele Abschiede verarbeiten. Sie ordnen den Tod Ihrer Großeltern sehr lebensweise als 'natürlich' ein, doch daß Ihr Vater so früh gestorben ist, erschüttert eine Familie wahrscheinlich doch sehr. Und wenn zu den Großeltern ein enges Verhältnis geherrscht hat, ist auch dieser Abschied - bei aller 'Normalität' - schmerzlich und manchmal schwer zu verarbeiten.

Daß Ihre Schwester sich 'deswegen' ritzt, glaube ich allerdings nicht. Was in der Seele einer Person vorgeht, ist rätselhaft, es gibt praktisch keine logischen Erklärungen. Das kausale Denken 'wenn - dann' wird vielerorts auf die Psyche angewandt, ist aber eher ein hilfloser Versuch, das Unerklärliche erklären zu können.

Etwas in Ihrer Schwester läßt es nicht zu, Beziehungen zu gestalten, d. h. Nähe zuzulassen und Distanz zu ertragen. Dieses Phänomen ist häufig zu beobachten, und gerade bei heranwachsenden Mädchen gibt es eine bekannte Tendenz, sich durchs 'Ritzen' Erleichterung zu verschaffen. In diesem Akt steckt bereits die beschriebene Ambivalenz (Unentschiedenheit): Ich provoziere die Aufmerksamkeit und Sorge meiner Mitmenschen, gleichzeit verschrecke ich sie durch Blut und Schmerz. Das Ritzen wird zudem als 'entlastend' beschrieben, als wohltuend.

Indem Sie jetzt mit Ihrer Sorge reagieren und dem Wunsch, Ihre Schwester am besten gar nicht mehr zu verlassen, folgen Sie unbewußt deren Aufforderung: Nämlich in ihrer Nähe zu bleiben und sich zu sorgen, gleichzeitig aber auch 'nichts tun zu können', d. h. trotz allem nicht wirklich an sie heranzukommen. Wohlgemerkt: es handelt sich um unbewußte Mechanismen, nicht um willentlich intendierte Vorgänge!

Daß die Besuche bei einer Psychologin 'nicht so viel bringen' kann viele Gründe haben: Vielleicht geht es schon damit los, daß eine (weibliche) Psychologin zu unbewußten Übertragungs- und Verdrängungsfunktionen beiträgt, vor allem, wenn sie verhaltenstherapeutisch arbeitet und das 'Beseitigen der Störung' im Vordergrund steht. Gerade in der Spätphase der Pubertät, in der sich Ihre Schwester befindet, und beim Fehlen des Vaters würde ich einen männlichen Therapeuten empfehlen, der analytisch oder humanistisch arbeitet. Dabei würde es dann nicht um die 'Reparatur einer seelischen Störung' gehen, sondern um die Übertragung, d. h. die 'Projektion' unbewußter Verlustängste und Rollenbilder auf einen dafür geeigneten Gesprächspartner.

Eine solche Verfahrensweise verfolgt nicht primär die 'Heilung einer Störung', sondern vielmehr die Erkenntnis unbewußter, ungeklärter Bilder und Empfindungen. Die daraus entstehende 'Annäherung an das Selbst' bewirkt dann eine Entspannung und Klarheit, die zu einer Abnahme der Symptomatik und einer besseren Selbstwahrnehmung führt.

Soviel zur Theorie. Was können Sie jetzt tun? Verfolgen Sie bitte Ihr eigenes Leben und Ihr begonnenes Studium! Der Wunsch, Ihrer Schwester zu helfen, ist völlig natürlich, doch ist diese Hilfe zum Scheitern verurteilt, wenn Sie Ihr eigenes Leben dafür 'opfern'. Wenn Sie Ihre Familie besuchen, nehmen Sie sich Zeit für Ihre Schwester und versuchen, möglichst genau Ihrer beider verbales und körperliches Nähe-Distanz-Verhältnis zu beobachten und auch immer wieder zur Sprache zu bringen. Vereinbaren Sie mit ihr, daß sie Ihnen z. B. per SMS ein 'Code-Wort' schickt, wenn es ihr sehr schlecht geht und sie das Bedürfnis hat, sich wieder zu ritzen und daß Sie dann so bald wie möglich (nicht sofort!) zurückrufen werden.

Auf diese Weise versichern Sie Ihrer Schwester Ihre Nähe, machen aber auch deutlich, nicht immer verfügbar zu sein. Genau diese Nähe-Distanz-Regulierung wird - egal nach welchem psychologischen Verfahren zukünftig gearbeitet wird - ein (!) wichtiger Aspekt sein und vielleicht der einzige, den Sie aktiv mitgestalten können.

Diese ganze familiäre Situation ist auch für Sie selbst eine große Herausforderung, Ihre Sorge ist Ihrer Zuschrift deutlich anzumerken. Bitte bedenken Sie, daß Sie Ihrer Schwester am ehesten eine Hilfe sind, wenn Sie ihr vorleben, daß emotionale Zuwendung einerseits und das Verfolgen eines eigenen Lebens andererseits machbar ist. Daß eine solche Erkenntis vielleicht erst nach längerer Zeit 'wirkt', läßt sich leider nicht vermeiden. Ich wünsche Ihnen, Ihren eigenen Zwiespalt zwischen Nähe und Distanz immer wieder eingehend betrachten und akzeptieren zu können.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Holger Nikolai
- Heilpraktiker f. Psychotherapie -

Bewertung durch den Fragensteller:
Vielen Dank für die ausführliche Antwort :)





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