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Trennungsschmerz eines Sechsjährigen

poohwinnie (w, 33) aus Freising: Hallo! Mein Sohn, 6 Jahre, ist jetzt im September in die Schule gekommen. Jeden Tag in der Früh, kurz bevor es in die Schule geht, bekommt er auf einmal Bauchweh. In der Schule ist dann alles wie weggeblasen. Alleine geht er allerdings gar nicht. Er braucht jemanden, mit dem er mitgeht, sonst weint er auch noch und klammert sich an mich. Bringe ich ihn, trennt er sich ganz schwer und verdrückt die Tränen.

Am 2. Tag hat ihn mein Mann gebracht, und er hat sich panisch an ihn geklammert. Dann kam die Lehrerin, nahm ihn mit und es war alles gut. Während des Schultages ist nichts und er hat auch Freunde. Er hat auch keine Probleme im Unterricht. Er ist generell aufgeregt vor neuem und eher ängstlich. Momentan trennt er sich auch ganz schwer. Als ich letzte Woche abends ausging, hat er sich auch panisch an mich geklammert und wollte mich nicht gehen lassen. Mein Mann nahm ihn dann, und als ich weg war, war es gut. Bauchschmerzen und Trennungsangst sind momentan massiv. Bauchschmerzen bekommt er auch ab und zu vorm Bettgehen oder anderen neuen Situationen.

Wie kann ich ihm helfen? Was tun gegen das Klammern, die Aufregung vor der Schule und gegen die Bauchschmerzen? Organisch ist übrigens alles o.k. Wir waren im August dreiWochen auf Mutter-Kind-Kur und er ging da nicht gerne in die Kita und hat ab und zu geweint, als ich ging. Wenn ich weg war, war alles o.k. Vielleicht kommt das Klammern auch daher. Vielen Dank für Ihre Hilfe!

Antwort vom Psychomeda Therapeuten-Team:

Liebe poowinnieh,

vielen Dank für Ihre Frage, aus der die Sorge um ihren Sohn spricht. Es ist eine aufregende, vielleicht sogar schwierige Zeit für ihren Sohn. Früher – und auch heute – wurde und wird oft gesagt „jetzt beginnt der Ernst des Lebens“. Diese Formulierung ist vielleicht etwas zu dramatisch, und dennoch beschreibt sie, daß mit der Schule ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Neue Gesichter, neue Erfahrungen, und auch neue Probleme, in diesem Falle allerdings nicht nur für Ihren Sohn, sondern auch für Sie selbst.

Das, was sie beschreiben, wird von der klinischen Psychologie als so genannte „Schulphobie“ beschrieben. Es handelt sich dabei nicht um eine Furcht vor der Schule, sondern es handelt sich ganz präzise um die Furcht, sich von den primären Bezugspersonen, in aller Regel den Eltern, entfernen zu müssen. Und das ist für einen Sechsjährigen eine durchaus große Herausforderung. Anscheinend haben Sie einen guten Kontakt zu Ihrem Sohn, denn Sie beschreiben ihn selbst als ängstlich und sensibel. Gerade, wenn Sie dies selbst bei ihm so gut einschätzen können, werden Sie vermutlich Verständnis für dieses Geschehen und für seine Reaktionen aufbringen können. Bemerkenswert ist, dass diese vorsichtige, furchtsame Reaktion tatsächlich nur im Augenblick der Trennung stattfindet, beim ganz konkreten Abschiednehmen vor der Schule bzw. bei allem, was das Abschiednehmen vorbereitet. Ist Ihr Sohn erst einmal im Unterricht, stellt sich offenbar schnell eine Vertrautheit zu Lehrern und Klassenkameraden her, so dass weitere ängstliche oder furchtsame Reaktionen keine große Rolle spielen.

Dass sie selbst die Persönlichkeit ihres Sohnes als ängstlich beschreiben, könnte Ihnen als Mutter bereits die notwendige Entlastung geben, denn Personen, und eben auch Kinder, sind verschieden: der eine mutiger, der andere eher ängstlich. Was Sie nun tun können, ist aus dieser Entfernung schwer zu sagen. Sie können auf einen Gewöhnungseffekt setzen und einfach sehr genau beobachten, ob sich die Problematik verändert oder sogar abschwächt im Verlauf einiger Wochen oder weniger Monate, denn die Situation ist für ihren Sohn einfach noch sehr neu.

Und das verleitet mich zu einer vielleicht etwas gewagten These, die ich Ihnen aber dennoch mitteilen möchte: Daß Sie nach so relativ kurzer Zeit bereits ein Problembewusstsein entwickeln und hier in diesem Forum um Hilfe bitten, könnte ein Hinweis darauf sein, daß Sie selbst über einen solches Maß an Unsicherheit verfügen, daß dies einen elementaren Bestandteil ihrer persönlichen Beziehung zu Ihrem Sohn darstellt. Vermutlich ist es deswegen am sinnvollsten, daß Sie selbst ganz genau überprüfen – gegebenenfalls auch mit therapeutischer Begleitung –, wie gut sie Ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten wahrnehmen können, und ob es möglich ist, daß Ihre eigenen Unsicherheiten sich vielleicht auf Ihren Sohn übertragen. Denn der Kern der angesprochenen Schulphobie liegt mutmaßlich darin, daß das Kind fürchtet, seinen Bezugspersonen könne etwas zustoßen. Im Augenblick der Trennung erlebt das Kind den Gedanken „und wenn ich sie nie wiedersehe?“.

Es ist leicht gesagt, aber versuchen Sie es mit Entspannung! Damit meine ich – natürlich – eine wirklich tiefgreifende Entspannung, nicht ein Lippenbekenntnis. Das Thema Selbstständigkeit, Hinausgehen, Trennung und Abschied ist existenziell und ein Teil der menschlichen Psyche. Zum einen ist Ihr Sohn für dieses Thema vielleicht einfach besonders empfänglich, es ist seine Form der Individualität, zum anderen, wenn wir die besondere Bezogenheit und Abhängigkeit zwischen Mutter und Kind bzw. Eltern und Kind betrachten, ist es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aber auch Ihr eigenes, ganz persönliches Thema. Ihr Sohn verlässt im Augenblick die sogenannte Mutter-Kind-Dyade, die intime Zweiheit, das untrennbare Aufeinanderbezogensein von Mutter und Kind. Es wäre fahrlässig zu denken, nur weil Sie erwachsen sind, würde Ihnen das nichts ausmachen. Das ist vielleicht ihre bewusste Einstellung, mit großer Wahrscheinlichkeit wird dieser „Schritt ins Leben“ allerdings auch Sie in einer ganz bestimmten Art und Weise tangieren. Zu vermuten, dass nun das gesamte Geschehen sich nur in ihren Sohn abspielt, wäre also ebenso fahrlässig.

Schauen Sie selbst in sich hinein, und wenn sie dort irgendetwas finden, mit dem Sie sich im Verhalten ihres Sohnes wiederfinden, dann sehen Sie das als eine Art Spiegel. Sprechen Sie selbst mit einem Therapeuten darüber und versuchen Sie, Ihre eigenen Einstellungen zu finden und zu formulieren. In dem Augenblick, in dem Sie selbst eine lebbare Haltung zum Themenkomplex „Abschied“ finden, werden Sie auch eine Veränderung an Ihrem Sohn bemerken, denn dann verfügen Sie beide über ein handhabbares Bild von Abschied.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Holger Nikolai
Heilpraktiker f. Psychotherapie
Bewertung durch den Fragensteller:
,Eine sehr gute, verständliche, aufschlussreiche und ehrlich Antwort





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